Hipsterscheiß
Der Wecker klingelte. Eugen Rapsberger wachte auf, duschte mit heißem Wasser und machte sich nach einem Frühstück mit halb-vegetarischen Bio-Würstchen an die Arbeit.
Lucky, sein kleiner Hund, winselte und bettelte darum, nach draußen zu dürfen, aber seine Frau schlief noch und Eugen hatte keine Zeit mehr fürs Gassi gehen.
Im Büro angekommen, machte er sich sofort an die Arbeit, da er alle Deadlines für den Online-Shop für Gourmet-Fleisch der ungenetisch-veränderten Stiere schon fast verpfuscht hatte und die Anpassungen im Webportal für Cosplay- und Anime-Fans bereits unter Termindruck standen.
Nachdem Eugen sich bis zum Abend mit dem Anime-Portal beschäftigt hatte, erinnerte er sich plötzlich daran, dass die native Werbekampagne für die innovative App namens „One Live long“, mit dem man mit wenigen Klicks eine Lebensversicherung abschließen kann, gestern zusammengebrochen war, und forderte verzweifelt den Service von Natvie Ads an.
Der englischsprachige Native Ads Mitarbeiter im Chat sagte unter dem Deckmantel freundlicher Smileys, dass er nicht helfen könne, weil die Kampagne von der künstlichen Intelligenz blockiert werde und nur eine Anwendung zur automatischen Überprüfung durch dieselbe, künstliche Intelligenz, die Angelegenheit korrigieren könne.
Eugen Rapsberger klappte seinen Laptop zu und verließ sein Bürozimmer.
Es war Freitagabend, und zwei älteren Kollegen hatten bereits Schachfiguren aufgebaut, schluckten Bier mit ihren schlaffen Adamsäpfeln und verfluchten die Digitalisierung sowie die „ganze Hipsterscheiße“.
Eugen mochte sie nicht, weil sie zu viel Schweinewurst aßen und die Veganer nicht tolerierten. Allerdings war heute alles besonders stressig und so beschloss er, sich anzuhören, was die alten Säcke so erzählen, um ein wenig Stress abzubauen und ein Fläschchen Bier zu sich zu nehmen.
Im Zuge des Gesprächs gingen die Alten von der Digitalisierung zu den Pilzen über, die sie am Mittwoch und Donnerstag gesammelt haben. Sie erzählten einander wo wer was fand und das fand Eugen nicht so spannend.
Einer von ihnen, Karl-Heinz, klopfte Eugen väterlich auf die Schulter und sagte, nachdem er die vierte Flasche in drei Schlucks getrunken hatte, unverblümt: „Rapsi, nichts für ungut, aber du lebst das falsche Leben. Du wirst bei der Arbeit ausbrennen und kaputt gehen. Geh in den Wald und sammle Pilze. Oder komm doch am Sonntag zum Schießstand nach Mechelroda. Du kannst mit meinem Schweden schießen und dann können wir ein Bier trinken gehen.“
Eugen, ein Pazifist und Abneiger aller Arten von Waffen, lehnte höflich ab und taumelte nach Hause.
Als er am Samstagmorgen in die traurigen, großen Augen seines Hundes blickte, erinnerte er sich an das Gespräch über den Wald und die Pilze und fasste plötzlich einen Entschluss. „Ach, zum Teufel mit allem. Ich gehe in den Wald und sammle ein paar Pilze. Ich komme in Kontakt mit der Natur, kann meinen Arbeitsstress abbauen, und mein Hund wird schön spazieren.“
Im Wald angekommen, kletterte er sofort in das Dickicht, weg von den Abgasen der Straße. An einer Stelle sah er eine Ansammlung von weißen Pilzen, die sehr saftig aussahen. Eugen erkannte sie als Champignon-Pilze, die er und seine Frau ab und an im Supermarkt gekauft hatten.
Er pflückte die giftigen Agaricus xanthodermus, die bei den deutschen Pilzsammlern als Karbol-Champignons oder Gift-Egerlinge bekannt sind, und ging zufrieden nach Hause. Heute wird er seiner Frau eine leckere Überraschung bereiten, indem er die Pilze selbst zubereitet und mit Wein, Fenchel, Ingwer, Quinoa-Samen, Leinöl und Petersilie serviert..
Autor: Evgeny Tenenbaum